Hier sitze ich, der leere Bildschirm, dunkler jetzt, starrt mich an, fordernd, fast scheint mir, als lache er mich aus, kaum hörbar, was willst Du schreiben über dieses Buch? Über dieses beste aller Bücher, für mich seit Jahrzehnten schon. Neben mir aufgeschlagen mein erstes Exemplar, Luchterhand, ein vergilbtes, halb zerbröseltes Taschenbuch, fleckig und steif, die Seiten lose. Gelesen habe ich es sicher ein dutzend Mal, nein, nicht gelesen, eingeatmet, erfahren, bin auf Wanderschaft gegangen in diesem Text, der mir je nachdem, aus welchem Blickwinkel ich ihn betrachtete, unterschiedliche Welten offenbarte. So viele Geschichten in einem so schmalen Buch, ist das zu glauben?

Wie nähere ich mich diesem Text, ohne durch grobe Versachlichung die ihm innewohnenden Magie zu zerstören, so wird es sein, ich weiß es schon jetzt.

Meine erste Begegnung mit einem Inneren Monolog; Kassandra als Beute der Griechen nach dem verlorenen Krieg der Troier, wie sie um ihr baldiges Ende wissend, sich dem Schrecklichen, dem Krieg in Gedanken und Erinnerungen stellt. Ein einziger Gedankenstrom, assoziativ, sprunghaft, selbstkritisch und weise.

Kassandra BüsteSich an die Anfänge des Krieges herantastet, wie konnte das passieren? Hatte nicht Paris den Griechen die schöne Helena gestohlen? Nur um sich diese zurück zu holen, haben die Griechen Troja belagert. Paris aber, der dumme Junge, hatte sich Helena doch längst wieder wegnehmen lassen. Wieso also den Griechen nicht sagen, dass es in Troja keine Schöne Helena mehr gibt? Ihnen den Grund für ihre kriegerischen Handlungen nehmen. Wieso es den Troiern nicht sagen? Vermeidung von Gesichtsverlust, der Anfang vom Ende.

So der Rahmen. Es folgen die bekannten Protagonisten, doch ihre Rollen in dem Stück sind andere, als die ihnen durch die Sage zugedachten. Agamemnon kein Held, sondern ein wimmernder, ängstlicher Feigling, Achill kein erfolgreicher Krieger, sondern ein mordlüsternes Vieh. König Priamos, der geliebte Vater, ein Spielball der Interessen im Staate Troia. Schlussendlich Aeneas, der Geliebte, der mit seinen Leuten die Stadt vorzeitig verlässt, um mit ihnen in die Berge zu ziehen, kein Feigling, sondern ein Vernünftiger, der geht, bevor die Messer gewetzt werden.

Natürlich ist Kassandras Sehergabe kein mythisches Versprechen, sondern ihre Fähigkeit, die Zeichen um sich herum zu erkennen und zu deuten. Dass niemand die unbequeme Wahrheit kennen will, ein Phänomen nicht nur der damaligen Zeit.

Geliebt die Szenen, in denen Kassandra in den Bergen bei den Frauen für die Weile ihrer Genesung Unterschlupf findet, eine gewaltige matriarchalische Utopie. Geliebt auch die Erörterung der Frage nach dem Beginn des Vorkriegs, dem Moment, wenn Sprache den herrschenden Bedürfnissen angepasst wird. Besonders geliebt die Momente, da Kassandra bei ihrem Vater mit auf dem Thron sitzt und sich ihm ganz verbunden fühlt, lange bevor die Dinge aus dem Ruder laufen.

Es gibt in diesem Buch jede Menge solcher Momente, die mich erfassen und anrühren, bei jeder neuen Lektüre kann es etwas anderes sein, je nachdem in welcher Stimmung ich gerade bin.

Oh, und man kann diesem Text auch jede Menge politischer Bezüge beimessen, wenn man will, Analogien zu bestehenden und nicht mehr bestehenden Staatsformen herstellen, Christa Wolfs Meinungen dazu herausdeuten, sicherlich. Ansatzpunkte gäbe es genug.

Und doch, und doch, ich will das nicht, will das Gewebe nicht zerschneiden, der Schönheit keinerlei Gewalt antun.

Lausche zum wiederholten Mal völlig ergriffen den Schilderungen von einer, die die Ihren so gut kannte, die Geschehnisse hat kommen sehen, einer Chronistin des Kriege und dessen Entstehung. Loyalität und Ausgeschlossen sein, Liebe und Angst, Wahrheit und deren Verdrehung, Habgier, Macht, Neid, Verlust, Schmerz und Tod. Alles über Menschen in Zeiten des Krieges. Folge diesem unverstellten Blick zurück, der dazu dient, kurz vor der eigenen Verlöschung zu verstehen. Alles. Mich schaudert.

Mehr als von allem Inhalt aber bin ich ergriffen, betroffen von diesem Ton, von diesem mäandernden Erzählfluss wie eine elegische Melodie, wie ein langer, melancholischer Fluss durch wechselnde Landschaften. Ich in meinem leisen Holzboot darauf, lasse mich treiben und frage mich, wohin es mich diesmal führt.

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