Warum lese ich? Diese Frage stelle ich mir immer wieder, denn mal ganz ehrlich, auf den ersten Blick ist lesen doch eine wirklich komische Sache.

Zuerst einmal macht lesen einsam. Es schließt die Partner aus, die Kinder, die Freunde, jeden, der etwas von einem will und den man, ohne vom Buch aufzusehen, mit einer genervten Handbewegung, als würde man eine Fliege verscheuchen, auf Abstand hält. Entschuldige mal, aber die Geschichte ist gerade so spannend, so unterhaltsam, so wunderbar, da kannst du oder könnt ihr gar nicht mithalten. Man muss der Tatsache ins Auge sehen: Mal abgesehen davon, dass man alleine liest, wird man irgendwann auch einfach von all den gekränkten Leuten um einen herum alleine gelassen.

 

Als wäre das nicht komisch genug, lenkt einen das Lesen vom eigenen Leben ab. Was könnte man nicht alles selber erleben, oder zusammen mit all den Gekränkten, anstatt mit blassem Gesicht in einer spärlich erhellten Kammer in der Ecke eines Sofas oder Sessels zu hocken und sich Seite um Seite in den Schicksalen fremder Menschen zu verlieren.

Obendrein ist lesen auch noch gefährlich. Nicht etwa nur, weil es einen auf umstürzlerische Ideen bringen könnte, sondern auch ganz konkret. Da hat man eben einen Topf mit Suppe aufgesetzt, nimmt sich für die Zwischenzeit sein aktuelles Buch zur Hand, ist zutiefst bestürzt, weil die geliebte Hauptfigur gerade eine unwiderruflich dramatische Entscheidung gefällt hat, und plötzlich schreckt einen der brenzlige Geruch aus der Küche auf. Wenn man Glück hat, ist nur der Topf hinüber.

Man nimmt also gelassen hin, dass man sein eigenes Leben verpasst, verliert Freunde, Partner, Kinder, sein Haus und den Verstand und das alles für einen Roman?

Wenn es dann wenigstens Sachbücher wären, geben die Mahner zu bedenken, erhellend und bildend oder wenigstens die Tageszeitung für den Bezug zur Realität.

Aber nein, Abenteuer müssen es sein, Psychodramen und Familien- und Liebesgeschichten, Kriminalromane, Fantasy und Science Fiction, Kinder- und Jugendbücher, alte, neue, spannende, witzige, schöngeistige Literatur.

Warum das alles? Warum nehme ich all das auf mich?

Hier der Versuch einer Antwort auf großen Umwegen:

Es gibt irgendwo im Südamerikanischen Dschungel einen Vogel, eine Finkenart, bei denen betreibt das Männchen eine ungewöhnliche Art der Werbung. Er stellt aus bunten, kleinen Dingen, aus Steinchen, Beeren und Sand,  Mosaike zusammen, die er seiner Angebeteten zeigt. Wenn sie das Kunstwerk mag, werden sie ein Paar, wenn nicht, zerstört sie es und das Männchen fängt wieder von vorne an. Hier geht es einmal nicht um Größe oder Stärke oder um die beste Art, ein Nest zu bauen, sondern um die pure Schönheit. Schönheit, die bedeutsam ist für ein erfolgreiches Leben.

Wenn Schönheit also glücklich macht, und man postuliert, dass ein glückliches Leben ein erfolgreiches Leben sei, so ist das sich Beschäftigen mit schönen Dingen, mit Dingen, die einen glücklich machen, eine von vielen Arten, ein erfolgreiches Leben zu führen. Musik kann glücklich machen. Kunst, Architektur, Filme, Serien, tolle Autos, gutes Essen, ein schöner Garten, all das kann zuweilen glücklich machen und vergessen lassen, dass man sterblich ist. Gut erzählte Geschichten, egal welchen Genres, machen das Leben bunter und attraktiver, weil sie, im Gegensatz zum realen, wirren Leben, gestrafft, verdichtet, konzentriert und kunstvoll arrangiert sind..

Hin und wieder taucht ein Buch auf, das mich aus den unterschiedlichsten Gründen glücklich macht, weil es tiefe Einblicke gewährt, weil es eine Saite in mir zum Klingen bringt, weil es mich zum Lachen bringt oder auch unendlich verzweifeln lässt. Weil es einen schönen Klang hat oder einen guten Rhythmus, weil ich mich in Figuren verliebe, von denen ich schweren Herzens wieder Abschied nehmen muss.

Am Ende der Geschichte tauche ich auf, froh, an etwas Großem Teil gehabt zu haben. So füge ich dem Mosaik meines Lebens ein weiteres buntes Steinchen oder eine Beere oder ein Häuflein Sand hinzu. Dann drehe ich mich um und wende mich, um ein kleines bisschen glücklicher, meinem kleinen, unspektakulären Leben zu. Wenn das kein Grund ist!

 

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