Hedy Kempny ist eine junge Frau aus Wien, die Anfang der 20er Jahre ihrem Idol Arthur Schnitzler ganz unerschrocken eine Postkarte schreibt, in der sie ihn um ein Treffen bittet. Dieser, vielleicht ein kleines bisschen erschrocken, aber bestimmt auch geschmeichelt, schreibt ihr zurück und erklärt sich mit einem Treffen einverstanden.

Damit beginnt eine langjährige Freundschaft, die bis zum Tod des Dichters anhalten soll. Dokumentiert ist das alles, Briefe, Postkarten und Tagebucheinträge, in dem wunderbaren Buch „Das Mädchen mit den dreizehn Seelen“, das 1984 in der damals gängigen Reihe „Neue Frau“ bei Rowohlt erschienen ist. Soviel zu den sachdienlichen Informationen.

Als mir dieses Buch Anfang der 90er Jahre zuläuft, bin ich eine junge Studentin. Ich lese gerne, schreibe genauso gerne Tagebuch und bin sofort fasziniert von dieser Stimme aus der Vergangenheit, eine junge, selbstbewusste Frau, die einfach das tut, was sie sich sehnlich wünscht.

Ihre Ansichten scheinen den meinen so ähnlich zu sein, ihre schwärmerische Art, die alles durchziehende Melancholie und die stetige Frage, wohin das Leben sie wohl führen wird, treffen mich zu einer Zeit, da mich ähnliche Dinge umtreiben. Sie schreibt, sie schwärmt, sie trauert und sucht, und sie kann alle ihre Empfindungen in ausgesucht schöne Worte kleiden. Ich bin sehr lange sehr verzaubert. Von den dreizehn ihrer Seelen war mindestens eine mit meiner verwandt, so schien es mir damals.

Dabei ist sie viel wagemutiger als ich. Meine Briefe an mein damaliges Idol aus dem Radio habe ich natürlich nie abgeschickt.

Dafür schreibe ich jetzt in diesem Notizblock. So ein Notizblock ist ein feines Ding, er eignet sich besonders gut für Skizzen und Hingeworfenes, ich bilde mir gerne ein, dass dieses Format meinen Anspruch an mich selbst auf ein erträgliches Maß herunterschraubt. Dazu noch im Namen einer Fremden. Mit Wagemut hat das wahrlich nichts zu tun.

Immerhin heiße ich mit zweitem Namen Hedwig, und so gibt es neben der eingebildeten Seelenverwandtschaft auch noch eine Namensgleichheit, die die Identifikation mit Hedy ganz leicht macht.

Hedy ist also meine Tarnkappe, in ihrem Namen kann ich schreiben schwärmen, mich über Gelesenes und Gehörtes auslassen, über Musik, Literatur, Filme, Serien und was mich sonst an kulturellen Errungenschaften umtreibt.

Dabei stelle ich fest, dass es sich bei meinen Lese- und sonstigen Eindrücken nicht im klassischen Sinn um Rezensionen handelt. Nichts von dem, was ich sage oder schreibe, hält der Begutachtung eingefleischter Literaturkritiker stand. Zum Glück soll es das auch nicht.

Vielmehr geht es um das, was Literatur mir vermag, nämlich sich zu spiegeln in den Aussagen anderer. Immer wieder taucht die Erkenntnis auf, dass alles, was ich denke oder fühle, irgendwo schon einmal gedacht oder gefühlt worden ist, in diesen Zeiten oder in längst vergangenen. Und anstatt darüber traurig zu sein, nicht wirklich originär sein zu können, freue ich mich über die Entdeckung von universellen Denkmustern und fühle mich weniger alleine.

Natürlich schaut mir Hedy die ganze Zeit über die Schulter, wiegt den Kopf hin und her, zieht eine Haarnadel aus ihrem makellos hochgesteckten Dutt, der ihren Schwanenhals so wirkungsvoll zur Geltung bringt, steckt sie an anderer Stelle wieder rein und meint: „Ja, man könnte das so sagen. So oder so ähnlich.“ Dabei lächelt sie wie jemand, der sich im Großen und Ganzen mit der ganzen Welt im Einklang befindet.

 

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